Die Aufgabe der Kunst. Eine Frau hält sich konzentriert die Hände an die Schläfen

Die Aufgabe der Kunst

Wie so viele andere auch, war ich zutiefst erschüttert, als ich gestern von der Messerattacke auf Salman Rushdie las. Sind wir immer noch nicht weitergekommen, als andere Meinungen mit Gewalt zu beantworten? Darf die freie Meinungsäußerung mit einem Messerstich kommentiert werden? Ist nicht gerade sie eine Aufgabe der Kunst?

Ich bin bei den »Satanischen Versen« nicht über die ersten Seiten hinausgekommen und kann daher nicht sagen, ob ich mich als gläubiger Moslem beleidigt gefühlt und meine Religion verunglimpft gesehen hätte. Und selbst wenn es so wäre, möchte ich diesen Beitrag auf keinen Fall als Victim Blaming verstanden wissen. Ich nehme diese für mich kaum fassbare Attacke jedoch zum Anlass, grundsätzlich über die Aufgabe der Kunst nachzudenken. Über ihr Verhältnis zum Zeitgeist und zu den drei großen Säulen des Menschseins, der Trias von Körper, Seele und Geist.

Unser sinnlicher Körper

Der Körperkult auf einem einsamen Podest

Den Körperkult zelebriert unsere optisch und medial geprägte Gesellschaft ausgiebig, körperliche Fitness steht im Massenbewusstsein schon lange ganz oben. Hoch über Kunst, Kreativität und Spiritualität, oft auch über dem Geist. Aber unterscheidet dieser Körperkult uns Menschen von bloß in den Tag hineinlebenden anderen Lebewesen? Ja, wahrscheinlich schon. Ein Löwe bekommt vermutlich einen Lachanfall, wenn er unsere Fitness- und Healthapostel hört.

Als ich nach meiner Krebstherapie auf Reha war und mich in den Kunst- und Kreativeinheiten wieder aufrichtete, erntete ich von Teilen meiner eigenen Familie postwendend die skeptische Frage, was denn mit Sport wäre. Nicht, dass Bewegung kein wesentlicher Teil der Reha gewesen wäre, aber Körperkult nachdem man gerade überlebt hatte? Sport als Quintessenz des Lebens? Da läuft doch etwas gehörig aus dem Ruder! Wir haben unsere Körper vom Rest abgespaltet und auf ein Podest gestellt, wir sind schon längst keine ganzen Menschen mehr.

Die Aufgabe der Kunst für den Körper: echtes Spüren

In der Kunst können wir unsere Körper wieder so spüren, wie sie gedacht und angelegt sind. Unsere Sinne schärfen, sie lustvoll beschäftigen und wieder ins Fühlen kommen. Ob es das Herzklopfen, die Schmetterlinge im Bauch, die leuchtenden Augen oder kullernde Tränen sind. Innehalten, wahrnehmen und uns auf den Moment einlassen.

Anstatt uns zu Sklaven des Fitnesshypes zu machen, in Bodyshaming und Depressionen zu fallen, weil wir da einfach nicht mitmachen wollen oder können, erleben wir in der Kunst unseren Körper doch lieber als unseren Verbündeten. Dieses Spüren, das ist die Aufgabe der Kunst für den Körper.

Unser brillanter Geist

Aber dann bitte wirklich Geist

Aber, aber, so schlimm ist die Schieflage auch wieder nicht, wirst du jetzt vermutlich einwenden. Da ist doch noch der Geist. Ja genau. Wir gehen in die Schule, wir bilden uns, studieren und arbeiten. Doch, du hast recht, der Verstand, die Vernunft ist der zweite Gott, den wir anbeten. Auf ihm basiert unsere westliche Gesellschaft, und ganz ehrlich, auch ich möchte Bildung, eigenständiges Denken und scharfsinnige Argumentationen nicht missen.

Solange es um die Lust am Denken und um unsere Mündigkeit geht. Solange wir unseren Verstand auch dafür nutzen, Verantwortung zu übernehmen. Aber immer öfter habe ich den Eindruck, dass uns diese radikale Konzentration auf den Verstand erst recht wieder zu Sklaven macht. Zu Sklaven der Ratio, der Unterwerfung der Natur (auch unserer eigenen) und vor allem des Profits.

Der Verstand will doch spielen

Früher, in der Aufklärung, als der Grundstein zu unserer heutigen westlichen Gesellschaftsordnung gelegt wurde, prüfte man alles an seinem Nutzen. Allerdings philosophierte man damals auch gerne, und mit Philosophie meine ich nicht das heute übliche, selbstgefällige Gedankenspinnen und den unwiderstehlichen Drang, mehr oder weniger gehaltvolle Weisheiten von sich zu geben.

Philosophie war damals nicht Selbstdarstellung, sondern man argumentierte, man versuchte, hinter die Selbstverständlichkeiten zu blicken und der Welt auf den Grund zu kommen. Man setzte seinen Verstand spielerisch und kreativ ein. Von spielerisch und kreativ finde ich heute wenig. Entweder man richtet sich in den Systemen ein und stützt sie unreflektiert oder man rebelliert gegen sie um des bloßen Rebellierens willen. Oder man folgt unter dem Deckmäntelchen des Hinterfragens den abstrusesten querdenkerischen Ideen.

Die Aufgabe der Kunst für den Geist: Sichtweisen durchspielen

Weil man uns eines nämlich nicht mehr lehrt: verschiedene Positionen wahrzunehmen, einzunehmen, abzuwägen und auszuhalten. Uns nicht gemütlich in einer Blase einzurichten, in der wir die Selbstbestätigung gleich portofrei mitgeliefert bekommen, sondern ganz bewusst alle Standpunkte zu prüfen. Das wäre Wissenschaft, das wäre ein erwachsener Diskurs.

Aber den Verstand zu mehr als zum Mitstrampeln und Überleben in längst überholten Systemen einzusetzen, ist anstrengend und unbequem. Dann müsste man nämlich eine eigene, fundierte Meinung haben und – Schreck lass nach! – unsere eigene Meinung auch ständig prüfen. Hierin sehe ich eine entscheidende Aufgabe von Kunst. Uns selbst immer wieder aufs Neue zu reflektieren und verschiedene Positionen offen und neugierig durchzuspielen.

Unsere vernachlässigte Seele

Ist Religion überhaupt noch zeitgemäß?

Und damit kommen wir zur dritten Säule, zur Seele. Lange folgte ich dem Grundsatz, mich weder zu Politik noch zu Religion öffentlich zu äußern. Anlässlich des Angriffskrieges auf die Ukraine hatte ich mit dem ersten Grundsatz gebrochen. Steht nun der zweite zur Disposition? Nein, nicht wirklich. Mit der Religion halte ich es weiterhin wie bisher.

In meinen Romanen spielt Religion immer wieder eine Rolle. Nicht als Hauptthema. Aber Religion (dazu zähle ich jede Form der Spiritualität) gehört zu uns Menschen und deshalb auch zu Figuren einfach dazu. Sie ist ein Teil unseres menschlichen Wesens.

Der Haken mit der Seele

Körper und Geist leuchten ein, aber die Seele, die ist in den letzten Jahrzehnten arg in Misskredit geraten. Etwas für Ewiggestrige oder für esoterische Spinner. Wofür bitteschön brauchen wir eine Seele? Die dient doch ohnehin nur dazu, dass uns religiöse Autoritäten am Gängelband halten und auf ein Jenseits vertrösten können, wenn wir im Diesseits nicht zu den Gewinnern gehören.

Ich knirsche gerade mit den Zähnen, weil mir schon wieder dieses patriarchalische Denken so sehr bewusst wird. Das lineare, wachstumsverliebte Weltbild. Und wenn es mit dem Wachstum in dieser Welt nicht klappt, dann reinkarnieren wir eben oder kommen in den Himmel oder in die Hölle. Was wirklich zählt, sind ja eh das Jenseits oder das große Ganze und unsere Entwicklung während unzähliger Leben. Dumm nur, wenn wir vor lauter Fokussieren aufs Jenseits vergessen, unser Leben im Diesseits erfüllt und verantwortungsvoll zu leben.

Spiritualität darf man niemandem zerstören

Ja, in diesen letzten Absatz mischte sich eine gehörige Portion Sarkasmus. Aber darf man deshalb anderen ihren Glauben nehmen? Darf man ihn gar verunglimpfen? Nein, nein und abermals nein! Glauben können ist ein Geschenk. Glauben können ist heilig, und das darf man niemandem zerstören. Heilig im Sinne von Heil bringend, von heilsam, von guttuend.

Ich kann meine Figuren unterschiedliche Positionen zur Religion einnehmen lassen, die Bandbreite reicht dabei vom fundamentalen Katholizismus des Prinzen Karls über den Deismus des Marchese bis zur alten schamanistischen Spiritualität der Gräfin. Von der Volksfrömmigkeit des Toreros José Arevalo bis zu Alexander Merahwis Skeptizismus. Religion oder die bewusste Abkehr von ihr gehört zu unserem menschlichen Wesen untrennbar dazu, wenn wir nicht Bruchstücke unserer selbst sein wollen.

Beim Angriff auf Religion ziehe ich eine Grenze

Und damit schließe ich den Kreis zu Rushdie und der Fatwa. Nur weil ich selbst eine Ansicht nicht teile, heißt das noch lange nicht, dass sie für jemand anderen nicht gelten darf. Ich selbst bin zwar in einem gläubigen katholischen Umfeld aufgewachsen und entsprechend geprägt, habe mich aber von der Kirche gelöst, weil dieser Glaube für mich persönlich nicht mehr passt.

Ich lebe meine Spiritualität auf andere Weise, aber trotzdem werde ich fuchsteufelswild, wenn jemand blasphemische Witze reißt und die Kirche pauschal und undifferenziert attackiert. Ich gerate ebenso in Rage, wenn jemand den Islam oder welche Religion auch immer angreift, sich lustig macht oder den Glauben und seine Zeichen in den Dreck zieht.

Nein, Mohammed-Karikaturen rechtfertigen kein Todesurteil. Die »Satanischen Verse« geben niemandem die Erlaubnis, ihren Autor anzugreifen. Die sogenannte Befreiung der heiligen Stätten im Mittelalter legitimiert keine religiös getarnte militärische Operation aka Kreuzzüge.

Es täte uns allen miteinander gut, die Spiritualität anderer zu respektieren.

Nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu achten. Weil es nicht die eine, einzige Wahrheit gibt, sehr wohl aber jede Menge verletzter Gefühle und Identitäten. Und ist es nicht gerade das, was wir in unserer westlichen Gesellschaft so hochhalten? Unsere Identität? Also gestehen wir sie doch bitte auch allen anderen zu.

Die Aufgabe von Kunst für die Seele: das göttliche Prinzip

Was aber ist nun die Aufgabe von Kunst und ihr angemessenes Verhältnis zur Religion? Anschauen, verschiedene Blickwinkel einnehmen und offen bleiben. Und das göttliche Prinzip hochzuhalten. Nach seinem Ebenbild schuf er den Menschen, steht in der Bibel. Gott, die Göttin, das Universum, die Energie, der Weltgeist, wie auch immer du es nennen willst, war und ist schöpferisch tätig.

Kunst und Kreativität, in ihr verbinden wir all unsere Teile und werden zum kompletten Menschen. Und als solche müssen wir nicht kränken und auch nicht polemisieren. Wir dürfen Neues schaffen und versöhnen, als Künstler bauen wir an einer besseren, lebenswerten Welt.

Die Aufgabe der Kunst kann nicht sein, andere zu verletzen. Sie darf provozieren und infrage stellen, aber immer mit dem Ziel, eine lebenswerte Welt zu schaffen. Kreativität ist das Schöpfungsprinzip, und das soll uns allen Gutes tun und uns als menschliche Wesen wieder vollständig machen.

Auf dieses Buch beziehen sich die genannten Beispiele Prinz Karl, Marchese und Gräfin:

Das Gift der Schlange